Wie sicher ist das Familienbett?

Viele Eltern haben Angst vor dem plötzlichen Kindstod und vermeiden es deswegen, gemeinsam mit ihrem Kind im gleichen Bett zu schlafen. Für Unsicherheit und Angst sorgte eine 2013 veröffentlichte Meta-Studie von Carpenter et. al., die auch von namhaften Medien diskutiert wurde. Der bekannte Autor und Kinderarzt Dr. Herbert Renz-Polster hat sich die Studie genauer angesehen und eine Stellungnahme dazu veröffentlicht. Diese hat er uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt.

Download als PDF: Schlafen im Familienbett

Stellungnahme von Dr. Herbert Renz-Polster zum Thema Familienbett

Volltext der Stellungnahme: 

Antwort auf Carpenter et al. 2013: Bed sharing when parents do not smoke: is there a risk of SIDS?

Der Londoner Statistiker Robert Carpenter rechnet in einer viel beachteten Studie vor: Babys, die im Bett ihrer Eltern schlafen, hätten auch dann ein höheres Risiko für den Plötzlichen Kindstod, wenn die Mutter ihr Kind stille und nicht rauche (http://bmjopen.bmj.com/content/3/5/e002299).

Wir haben diese Studie kritisch gelesen und wollen darauf hinweisen, dass Carpenters Berechnungen teils auf unzulässigen Annahmen und auf veralteten Daten beruhen. Wir haben dies in einer Online-Reply im BMJ Open begründet: http://bmjopen.bmj.com/content/3/5/e002299.abstract/reply – bmjopen_el_7055

Wir fassen hier die wichtigsten Gründe unserer Kritik kurz auf Deutsch zusammen und fügen
eine Anmerkung zu der derzeitigen Diskussion in der Presse hinzu.

  • Carpenter fasste für seine Analyse Daten aus verschiedenen Fall-Kontroll-Studien aus unterschiedlichen Ländern zusammen. Es handelt sich dabei nicht um eine systematische Zusammenfassung oder Meta-Analyse, sondern um eine statistische Auswertung von 5 Datensätzen, die für diese Arbeit nach unbekannten Kriterien ausgewählt wurden. Die Daten sind 15 – 26 Jahre alt.

In dieser Zeit hat sich die Epidemiologie des Plötzlichen Kindstods deutlich verändert. So sind im Jahr 2011 in Deutschland insgesamt 147 Babys an Plötzlichem Kindstod (SIDS) verstorben. Das sind 89 % weniger als im Jahr 1991, als in Deutschland 1285 SIDS-Fälle auftraten.

  • Bei seiner Hochrechnung der aktuellen Risiken geht Carpenter von hier und heute nicht zutreffenden Zahlen aus. So legt er beispielsweise 0,43 SIDS-Fälle pro 1000 Lebendgeborenen zugrunde, von denen 22% im Elternbett verstorben seien. In Wirklichkeit aber liegt die SIDS-Rate in Deutschland um etwa die Hälfte niedriger. Ausserdem liegt der Prozentsatz der im Elternbett auftretenden SIDS-Fälle in Deutschland nicht bei 22% sondern bei 14,4% [Vennemann 2009]. Damit liegt die Zahl der im Bett der Eltern an SIDS verstorbenen Babys in Deutschland um zwei Drittel niedriger als laut Carpenters Berechnungen anzunehmen – nämlich bei derzeit etwa 21 pro Jahr und nicht bei etwa 64.
  • Für die überwältigende Mehrzahl dieser 21 Fälle muss angenommen werden, dass eines der bekannten Risiken für SIDS vorgelegen hat. In Carpenters eigener Studie waren 78% der SIDS-Fälle mit elterlichem Rauchen verbunden, mindestens 20 % mit starkem Alkohol-Genuss, 27% der verstorbenen Babys wurden auf dem Bauch zum Schlafen gelegt, und 65% der SIDS-Babys wurden ausschließlich mit der Flasche ernährt (die weitaus überwiegende Zahl der SIDS-Fälle tritt in den ersten 6 Lebensmonaten auf, und Stillen hat sich als wichtiger Schutzfaktor gegen SIDS herausgestellt [Hauck 2011]). Tatsächlich geht die SIDS-Forschung heute davon aus, dass bei fast allen SIDS-Fällen ein vermeidbarer Risikofaktor vorliegt. [Blabey 2009]
  • Obwohl Stillen, und dabei insbesondere das ausschließliche Stillen, als Schutzfaktor gegen SIDS bekannt ist, rechnet Carpenter in seiner Statistik auch die teilweise Fläschchen-gefütterten Babys zu den “gestillten” Kindern. Bei seinen Berechnungen werden also auch solche Babys als “gestillt” eingerechnet, die nachts mit der Flasche ernährt wurden.
  • Auch die Definition des “bed sharing” bedarf eines Kommentars: Carpenter zählt auch solche Fälle zum “bed sharing”, in denen das Baby normalerweise gar nicht bei den Eltern im Bett schläft, sondern lediglich seine letzte Nacht im Bett der Eltern verbracht hat. Aus der Literatur ist aber bekannt, dass im letzteren Fall oft besondere Risiken vorliegen [Vennemann 2012]: das Baby war möglicherweise von einer aufkommenden Erkältung geplagt (was ein erhöhtes SIDS-Risiko bedingt) oder die Mutter war durch besondere Umstände angeschlagen (z.B. Silvesterparty). Bei generellen Aussagen zum
    Risiko von “bed sharing” müsste deshalb eigentlich zwischen “usual bed sharing” und “bedsharing during last night only” unterschieden werden, so wie dies in neueren Studien praktiziert wird [z.B. Vennemann 2012].
  • Aus der Literatur ist ausserdem bekannt, dass das Schlafen von Babys bei einer “Nicht-Pflegeperson” mit einem deutlich höheren SIDS-Risiko verbunden ist als das Schlafen bei den Eltern [Blabey 2009]. Auch aus diesem Grund müssen generelle Aussagen zum SIDS-Risiko bei geteiltem “Eltern”bett sehr vorsichtig interpretiert werden.

 

Insbesondere muss aber darauf hingewiesen werden, dass die Angabe relativer Risken (z.B. “5 fach erhöhtes Risiko”) im Falle sehr kleiner Gesamtrisiken irreführend sein kann. Eine solche Angabe wird unwillkürlich als groß und bedrohlich wahrgenommen – auch in der Presse, wie die Einleitung zu einem Bericht über Carpenters Studie auf Spiegel online zeigt: “Die meisten Mütter kennen die Situation: Das Baby wacht nachts auf und will trinken. Die Mutter nimmt es zu sich, stillt, beide schlafen ein. Das passiert, weil die Übermüdung groß ist, weil die körperliche Nähe das Kind beruhigt, weil es einfach schön ist. Und es passiert, obwohl mittlerweile viele Eltern wissen, dass ihr Kind ein größeres Risiko für den plötzlichen Kindstod hat, wenn es mit ihnen in einem Bett schläft.” (Quelle)

Eine solche Schilderung weist auf eine drohende Gefahr hin und weckt bei Eltern große Ängste. Wir wollen deshalb hier die auf Deutschland bezogenen absoluten Zahlen nennen, wie sie aus den Statistiken des Bundes und den letzten Erhebungen der SIDS-Forschung [GeSID-Studie, Vennemann 2005] abzuleiten sind. In Deutschland werden pro Jahr 675 000 Babys geboren. Etwa 21 von diesen werden tragischerweise im Bett ihrer Eltern an SIDS versterben. Von diesen 21 Babys wird nur eine deutliche Minderheit voll gestillt gewesen sein, und in den allermeisten Fällen werden (allein, zusätzlich oder in Kombination) Zigarettenrauchen, Drogen, Schlafmittel, Alkohol und andere riskante Einflüsse eine Rolle gespielt haben. 

Das heisst: anders als die Angabe eines “mehrfach” erhöhten Risikos suggeriert, bei dem man sofort an sehr viele, vielleicht sogar an Hunderte von toten Babys denkt, handelt es sich beim Plötzlichen Kindstod im Elternbett um ein sehr seltenes Ereignis. Dessen Risiko wird noch einmal deutlich kleiner, wenn das Baby gestillt wird und die Eltern auf bekannte und vermeidbare ungünstige  Einflüsse wie Rauchen, Alkohol oder Drogen verzichten. Es mag tatsächlich Fälle geben, in denen SIDS bei einem voll gestillten Kind auftritt, dessen Eltern alles richtig gemacht haben. Wie häufig diese Fälle genau sind, und ob sie ursächlich überhaupt etwas mit dem Schlafort zu tun haben, kann die Wissenschaft nicht sicher beantworten. Auf jeden Fall aber sind diese Fälle Raritäten. 

Neue Fragen in der Debatte 

SIDS-Forscher weisen deshalb darauf hin, dass bei der Debatte um die Risiken des geteilten Elternbetts inzwischen ein weiterer Faktor berücksichtigt werden muss: dass nämlich manche Mütter aus Angst, ihr Kind zu sich ins Bett zu nehmen, nachts dann an solchen Orten stillen (und dort möglicherweise einschlafen), wo mit Sicherheit ein erhöhtes Risiko besteht: auf der Couch oder im Sessel [Blair 2009]. Auch wird darauf hingewiesen, dass das Stillen (das selbst einen Schutzfaktor gegen SIDS darstellt, aber auch sonst einen Bonus für die Gesundheit des Kindes darstellt) möglicherweise früher aufgegeben wird, weil das nächtliche Aufstehen als stressig empfunden wird. Und nicht zuletzt wird immer häufiger angeführt, dass es sich beim gemeinsamen Elternbett für Eltern auch um eine Lebensstilfrage handelt, die für manche Eltern das Leben mit einem Säugling erleichtert und die Beziehung zum Baby unterstützt. Die Schlaf-Forscherin Helen Ball fordert daher eine angemessene und evidenzbasierte Aufklärung über die mit dem Elternbett verbundenen Risiken auch aus ethischen Gründen [Ball 2013].

Zu den auf einem sicheren Datengrund stehenden Aussagen gehört, dass das geteilte Elternbett für ein Baby dann ein erhöhtes Risiko bedeuten kann, wenn die Eltern rauchen, Alkohol trinken, Drogen oder Schlafmittel nehmen, wenn das Baby bei Nicht-Pflegepersonen schläft, wenn das Bett nicht babygerecht ist (Sofa, Wasserbett, zu weiche Matratzen, Federbetten etc), wenn das Baby in Bauchlage schlafen gelegt wird, wenn es sich um ein frühgeborenes Baby handelt oder wenn das Baby nicht gestillt wird (letzteres gilt womöglich nur im ersten Lebenshalbjahr). Bekannt ist auch, dass diese Risiken deutlich und oft exponentiell größer werden, wenn sie in Kombination vorliegen. Bekannt ist auch, dass heute durch Balkonbetten viele dieser Risiken minimiert werden können.
Eine solche Aufklärung – über deren Inhalt sich die SIDS-Forschung einig ist – ist für die Eltern hilfreicher und entlastender als der pauschale Rat gegen das Schlafen mit einem Baby (eine solche pauschale Aussage ist auch unter den SIDS-Forschern umstritten).