Muttermilch und Zahngesundheit

Eines der vielen Themen, das Unsicherheit hervorruft ist die Zahngesundheit des Kindes. Der Berufsverband der Kinderzahnärzte empfiehlt auf seiner Homepage mit dem Zähneputzen spätestens ab dem Durchbruch des ersten Zahnes zu beginnen und weist unter Bezugnahme auf ein Kariesrisiko durch Zuckerkonsum sogleich darauf hin, dass auch Muttermilch Zucker enthält. Wissenschaftlich gesehen ist diese Information sowohl korrekt als auch sehr unvollständig. Eine Bewertung der aktuellen Studienlage.

Denn diese Art der Pauschalisierung führt zu einem bekannten Phänomen: Dem Kampf ums Zähneputzen, da Babys und Kinder den Mund nicht öffnen und Eltern voller Sorge auf geputzten Zähnen bestehen. Doch auch dafür findet der Berufsverband Worte: “Zähneputzen ist nicht einfach, weder für Ihr Kind noch für Sie” und folgert, dass man noch viel früher mit der Gewöhnung an die Zahnbürste beginnen müsste. Denn solange man konsequent bleibe und “als Mama und Papa seinen Liebling zu seinem Glück bringe” (gemeint sind saubere Zähne), würde irgendwann alles gut werden.[1]

Es ist leicht nachvollziehbar, dass Eltern sich verunsichert und sogar schlecht fühlen, wenn es mit dem Zähneputzen gemäß der Empfehlung nicht klappt.
Was also weiß man inzwischen über Muttermilch und ihrer Wirkung auf Zähne? Wie entsteht Karies und welche Rolle spielt Zucker dabei? Wie können wir als Stillberater/innen die ratsuchenden Eltern unterstützen?

Ob ein Zahn Karies entwickelt, hängt zum einen von der persönlichen Veranlagung, zum anderen von der Aktivität bestimmter Bakterien, insbesondere dem Streptococcus mutans, ab. Diese Bakterien leben im Zahnbelag (Plaque) und produzieren beim Verstoffwechseln von kurzkettigen Kohlenhydraten[2] aus unserer Nahrung wiederum Säuren, die den Zahnschmelz angreifen können. Damit sind sind Kohlenhydrate (Saccharide) mit wenigen aneinanderhängenden Zuckermolekülen gemeint. Die sogenannten Mono-, Di-, Oligosaccharide (Einfach-, Zweifach- und Mehrfachzucker) wie z.B. Trauben- und Fruchtzucker, Kristallzucker, Milchzucker, Raffinose (ein Dreifachzucker in Hülsenfrüchten, Zuckerrohr, u.a.) schmecken süß und lösen sich leicht in Wasser – oder auch im Speichel. Bei langkettigen Kohlenhydrate handelt es sich ebenfalls um Zuckermoleküle, die hier jedoch eine Kette von mehr als 10 aneinanderhängenden Molekülen bilden. Zu diesen so genannten Polysacchariden (Vielfachzuckern) zählt z.B. Stärke (u.a. aus Getreide, Reis, Kartoffeln). Sie werden im Körper zur kleinsten Zuckereinheit (Glucose[3]) abgebaut.
Als Faustregel gilt: Je kurzkettiger, desto schneller löslich und desto süßer schmecken sie. Je langkettiger, desto geschmacksneutraler und wasserunlöslicher sind sie.

Zahnschmelz ist eines der härtesten biologischen Materialien und enorm widerstandsfähig. Er besteht überwiegend aus Hydroxylapatit (gebildet aus Calcium und Phosphat), das im normalen Mundmilieu (pH-Wert zwischen 6,5-7) stabil ist. In saurer Umgebung (unter einem pH-Wert von 5,5) jedoch setzt der Prozess der Demineralisation ein: durch die nun saure Umgebung lösen sich Mineralien aus dem Zahnschmelz. Im Mundraum geschieht das durch die Säureentwicklung der Bakterien und durch Fruchtsäuren. Steigt der pH-Wert wieder an, können diese Mineralien jedoch wieder aus dem Speichel in den Zahnschmelz eingelagert werden (Remineralisation).

Wenn der Materialverlust durch Demineralisation größer ist als die Materialneubildung durch Remineralisation, entsteht Karies. Dies bedarf jedoch eines sehr langen Zeitraums über viele Monate oder gar Jahre hinweg. Da Zahnbelag (Plaque) die Remineralisation hemmt, weil der Speichel nicht mehr an den Zahnschmelz heran kommt, sind also Zeit und Zahnhygiene bedenkenswerte Faktoren. Außerdem ist auch die Häufigkeit der Zuckerzufuhr wichtig. Je öfter Zucker konsumiert wird, desto öfter wirken die bakteriellen Säuren auf die Zähne ein, desto weniger Zeit bleibt für eine mögliche Remineralisation.

Muttermilch: kariogen oder nicht?

Muttermilch enthält Zucker hauptsächlich in Form von Laktose (Milchzucker) zu etwa (und hier schwankt es) 7 Gramm Laktose pro 100 Gramm Muttermilch[4]. Laktose ist ein Zweifachzucker (Disaccharid) und zählt damit zu den kurzkettigen Kohlenhydraten, die von Streptococcus mutans so gern verstoffwechselt werden. Zudem wird sie pro Tag häufig aufgenommen und über einen längeren Zeitraum gegeben.

Nun zu schlussfolgern, dass Muttermilch kariogen (kariesfördernd) sei, wäre zu kurz geblickt. Schließlich enthält Muttermilch noch zahlreiche andere Stoffe, darunter z.B. die Immoglobuline A und G (IgA und IgG), die als Antikörper u.a. gegen Streptococcus mutans wirken! Das Enzym Lysozym dient der Abwehr von Bakterien. Lactoferrin ist ein eisenbindendes Eiweiß, welches den Bakterien lebenswichtiges Eisen entzieht. Calcium, Phosphat, Natrium, Magnesium und weitere Mineralstoffe und Spurenelemente in der Muttermilch unterstützen die Remineralisation der Zähne.

Wissenschaftlich gesehen ist Muttermilch für die Zähne kein Problem, kein Grund zur Sorge und sogar sehr nützlich. Schließlich heißen die Kinderzähne auch Milchzähne und ein Vergleich mit anderen Getränken oder Speisen hält einer klaren Betrachtung nicht stand. Dazu kommt, dass Muttermilch genau genommen die Zähne kaum umspült, da sie direkt in den Rachen gesogen wird. Die Zähne sind bei weit geöffnetem Mund während des Stillens nicht im Weg.

Und das nächtliche Stillen?

So hat sich die Sorge hin zum nächtlichen Stillen verschoben, einer Zeit, wo sowohl Mutter als auch Kind schläfrig sind oder sogar während des Stillens weiterschlafen, so dass ggf. ein Dauernuckeln erfolgt. Hier sei gesagt, dass ein schlafendes Baby die Brust loslässt bzw. verliert. Aber selbst wenn nicht, ist ein pauschaler Vergleich zu Saugern oder Flaschen mit (gesüßten) Getränken und Schnullern nicht haltbar, da zum einen die Wirkung auf den Kiefer eine andere ist (vgl. B. Palmer, 2000) und zum anderen die Muttermilch aus der Brust durch das Saugen aktiv gewonnen wird, während ein Getränk aus den meisten Flaschensaugern passiv in den Mund tröpfeln kann.

In einer zahnmedizinischen Doktorarbeit heißt es:

Kinder, die während des Schlafens im elterlichen Bett regelmäßig nachts gestillt worden waren, wiesen mit einem mittleren dmf-t[5] von 1,11 fast doppelt so viele kariöse, gefüllte oder wegen Karies fehlende Milchzähne auf wie Kinder ohne dieses Habit.
Kinder, die nachts im Bett regelmäßig zuckerhaltige Getränke aus der Flasche konsumiert hatten, litten unter einem deutlich höheren Kariesbefall. Bei ihnen betrug der dmf-t-Mittelwert 1,62, also mehr als das 3-fache des dmf-t-Wertes der übrigen Kinder (0,47).

Gleichzeitig wird festgestellt:

Allerdings beeinflusste das Stillen an sich die Zahngesundheit eher positiv, denn gestillte Kinder hatten tendenziell eine geringere Karieserfahrung.

Viele Studien haben gezeigt, dass Stillen – auch Nachts – keinen signifikanten Einfluss auf die Zahngesundheit hat oder sich allgemein eher positiv auswirkt. Einige Studien meinen jedoch, gerade das nächtliche Stillen als einen der Risikofaktoren für Karies erkannt zu haben. In diesen Fällen ist wichtig, sich anzusehen wie die Studien durchgeführt wurden, insbesondere ob eine signifikante Stichprobe vorlag.

Während früher einige Autoren über einen kariogenen Effekt des Stillens berichteten, vertreten heute die meisten Autoren die Meinung, dass das moderate Stillen des Kleinkindes nicht zahnschädlich ist [Valaitis et al. 2000, Dye et al. 2004]. Zu diesem Ergebnis kommt auch die bisher größte randomisierte Studie zur Korrelation zwischen Stillen und Zahnkaries [Kramer et al. 2007]. [Sie] wurde [in Weißrussland] an 31 Polikliniken mit mehr als 13.000 Kindern durchgeführt. Die Kinder wurden ab ihrer Geburt für 6,5 Jahre beobachtet. (…) Der Anteil der Kinder, die bis zu ihrem 3. Lebensmonat ausschließlich gestillt worden waren, war in der Interventionsgruppe 7mal so hoch wie in der Kontrollgruppe. Anlässlich der zahnmedizinischen Abschlussuntersuchung, bei der die Kinder im Mittel 6,6 Jahre alt waren, zeigten sich bezüglich der Zahngesundheit keine signifikanten Unterschiede.

Die bisher größte randomisierte Studie zum Thema sagt also, dass sich zwischen (lang) gestillten und nicht (oder nur kurz) gestillten Kindern ungefähr bei Schuleintritt keine signifikanten Unterschiede bezüglich der Karies zeigen. Mit 13.000 Kindern ist diese Studie absolut aussagekräftig und glaubhaft! Da die Kinder über einen Zeitraum von mehr als 6 Jahren ständig untersucht wurden, liegen auch viele Daten zur Auswertung vor. Je mehr Daten zur Verfügung stehen, umso genauer kann auch die Auswertung und das Ergebnis sein. Da es sich auch um eine randomisierte Studie handelt, d.h. die Zuordnung zur Interventionsgruppe nach dem Zufallsprinzip erfolgte und auch eine Kontrollgruppe gegeben ist, erfüllt sie den derzeitigen Goldstandard im Studiendesign. Solche Studien gelten als beste Wahl, um bei einer eindeutigen Fragestellung eine eindeutige Aussage zu erhalten und den Zusammenhang zu belegen.

Hingegen identifizierten Vázquez-Nava et al. [2008] ebenso wie wir in einer retrospektiven Studie an 4- bis 5-jährigen Kindern das über den 12. Lebensmonat hinaus andauernde nächtliche Stillen als kariesförderndern Risikofaktor

Hier ist wichtig zu bemerken, dass es sich um eine “retrospektive” Studie handelt. Eine retrospektive Studie wählt Teilnehmer aus, die sich in dem zu untersuchenden Merkmal unterscheiden (z.B. Karies/kein Karies), ansonsten aber (Alter, Gewicht, Lebensweise) recht ähnlich sind. Anschließend werden die Teilnehmer dazu befragt und/oder untersucht ob und falls ja wie sehr sie den ursächlichen Faktoren ausgesetzt waren. Die Daten werden statistisch ausgewertet und miteinander verglichen. Es findet also keine dauerhafte Begleitung und Datensammlung statt.

Diese unterschiedlichen Datenerhebungen und -auswertungen führen zu unterschiedlichen Interpretationen. Es hilft uns als StillberaterInnen und Eltern sehr, wenn wir dies bei immer neuen Meldungen und Schlagzeilen sowie fachmännischem und verwandtschaftlichem Rat mit Verunsicherungspotenzial im Hinterkopf behalten.

Quellen

Techniker Krankenkasse, Dr. med. Susanne Holthausen, Stillen (2009), http://www.tk.de/tk/vorsorge-bei-kindern/zahngesunde-ernaehrung/stillen/24482

Europäisches Institut für Stillen und Laktation, Kindliche Zahngesundheit, http://www.stillen-institut.com/de/kindliche-zahngesundheit.html

Kathrin Veronika Plattner, Facharbeit Muttermilch und frühkindliche Karies (2011), http://www.stillen-institut.com/asp_service/upload/content/FACHARBEIT-MUTTERMILCH-UND-FRUEHKINDLICHE-KARIES-Plattner-Kathrin-Veronika.pdf

Zahnärztekammer Nordrhein, Dr. med. Christoph Hassink, Stillen, Schnuller und Co.: Empfehlungen für Zahnärzte und Eltern (2011), http://www.zahnaerztekammernordrhein.de/fuer-patienten/patienteninfos/stillen-schnuller-und-co-empfehlungen-fuer-zahnaerzte-und-eltern.html

Nancy E. Wight, Stillen und Zahngesundheit http://www.stillkinder.de/pdf/dental_health_de.pdf

Brian Palmer, Infant Dental Decay Is it related to Breastfeeding? (2000) http://www.brianpalmerdds.com/pdf/caries.pdf

Senay Yüksel, Karieserfahrun bei Kleinkindern – Korrelation zu verschiedenen Ernährungs- und Prophylaxeparametern (2010), http://archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2010/0269/pdf/dsy.pdf

 


 

[1] http://www.kinderzahnaerzte.de/zaehneputzen___ab_wann_.html

[2] Eine Liste mit kariogenen Lebensmitteln findet sich z.B. hier: http://www.medizinfo.de/zahnmedizin/erkrankungen/karies/kariesfoerdende_nahrungsmittel.shtml

[3] Die Einfachzucker Glucose, Fructose und Galactose sind für unseren Stoffwechsel unverzichtbar, da sie Energielieferanten für alle Prozesse im Körper sind.

[4] http://www.afs-stillen.de/index.php/stillbeziehung/fachinformationen/114-zusammensetzung-und-abwehrstoffe-der-muttermilch

[5] DMF steht für: D=diseased=erkrankt, M=missing=fehlend, F=filled=gefüllt. T steht für tooth/teeth = Zahn/Zähne

 

Alexandra Waldschmidt-Battenberg, AFS-Stillberaterin |
AFS-Stillzeit 01/2015