Hypoglykämie – Unterzuckerung beim gesunden, reifen Neugeborenen

 

Die Initiative „Stillfreundliches Krankenhaus“ hat mit den „10 Schritten zum erfolgreichen Stillen“ eine Diskussion rund um das Zufüttern in den ersten Lebenstagen ausgelöst. Eine der am häufigsten genannten Begründungen für das Zufüttern in den ersten Lebenstagen ist die mögliche drohende Gefahr für Unterzuckerung beim Neugeborenen. Dabei treten schon Probleme bei der Definition der Unterzuckerung auf. Eine ausführliche Erklärung.

 

  1. Die Bestimmung der Werte kann nur anhand von Blutproben stattfinden, nicht durch Teststäbchen.
  2. Es gibt noch keine Sicherheit über die Grenzwerte bei gesunden, reifen Neugeborenen.
  3. Ausschlaggebend sind die Möglichkeiten des Säuglings, andere Brennstoffe zu nutzen. Gesunde, reife Säuglinge benutzen nicht nur Glucose aus der Nahrung. Sie sind auch in der Lage, Fette zu verbrennen und umzusetzen in Glucose. Gerade durch Muttermilch (vor allem das Enzym Lipase) wird die Ausschüttung von Fetten stimuliert (Mehr Ketone im Blut des Kindes), die in Glucose umgewandelt werden.

Seit 1997 gibt es Empfehlungen zur Vermeidung und Behandlung der Hypoglykämie bei Neugeborenen. Die Expertengruppe der WHO, die diese Empfehlungen aufgestellt hat, unterstreicht, dass das gesunde, reife, nach Bedarf gestillte Neugeborene keine „symptomatische“ Unterzuckerung infolge Mangelernährung entwickelt. Wenn ein Kind unterzuckert ist, sollten andere Ursachen für die Unterzuckerung gesucht werden. Die Beseitigung dieser Ursache ist ebenso bedeutsam wie die Blutzuckerkorrektur.

 

Schon 1991 hat Gro Nylander und ihr Team sehr schön bewiesen, dass Zufütterung, gerade wegen Hypoglykämie nicht notwendig ist. (Unsupplemented Breastfeeding in the maternity ward. Positive long-term effects. Nylander G, Lindemann R, Helsing E, Bendvold E, Acta Obstet. Gynecol. Scand. 70, 1991: S 205-209).

 

Sie hat 407 Mutter-Kind-Paare untersucht. Die erste Gruppe der Kinder wurde normal zugefüttert mit Glucoselösung in den ersten drei Lebenstagen (16 – 124 ml/kg/24 h), und bekam danach meistens Muttermilchersatznahrung bei ein oder mehreren Stillmahlzeiten. Die zweite Gruppe bekam nur kleine Mengen Wasser an den ersten Lebenstagen, wurde aber früher und häufiger gestillt als die Kontrollgruppe. Nur bei mehr als 10 % Gewichtsverlust wurde zugefüttert (11,8 % der Gruppe). Es stellte sich heraus, dass die Kinder, die nicht zugefüttert wurden, zwar mehr Gewichtsverlust hatten, dafür aber auch schneller wieder zunahmen und letzten Endes ihr Geburtsgewicht sogar schneller erreichten als die Kinder, die zugefüttert wurden. Zwei Kinder der zweiten Gruppe (ohne Zufütterung) wurden kontrolliert wegen Verdacht auf Hypoglykämie. Dieser Verdacht konnte sich aber nicht erhärten: der Blutzuckerwert bei diesen Kindern war normal.

Diese Studie macht also klar, dass reife, gesunde Neugeborene kurze Fastenzeiten gut tolerieren, und dass Unterzuckerung bei gesunden reifen Neugeborenen nicht auftritt.

  1. Die Kinder, die nicht zugefüttert wurden, wurden später übrigens länger gestillt. Diese Studie zeigt aber auch, wie wichtig der richtige Umgang mit gesunden Neugeborenen ist, wenn man Unterzuckerung (und auch Gelbsucht) vermeiden will: möglichst soll, schon im Kreißsaal, angelegt werden. Die Milchbildung wird dadurch angeregt, das Kind lernt die richtige Trinktechnik ohne Störung, es wird geschützt gegen Infekte (übrigens eine Ursache für Unterzuckerung) und bekommt schon etwas Nährstoffe und Enzyme, die den Stoffwechsel anregen.
  2. Es sollte so oft trinken wie es möchte. Das bedeutet in den ersten drei Tagen oft mehr als 10 mal pro Tag. Wenn aber mal längere Pausen auftreten (was am zweiten Tag oft passiert), führt dies nicht unbedingt zu Unterzuckerung, da dann Vorräte verbraucht werden (Glykogen und Fette aus der Leber) (Hawdon, Ward Platt, Aynsley-Green, Midwifery). Auch dann besteht also kein Grund zum Zufüttern.
  3. Mutter und Kind sollten nicht getrennt werden. Nur bei 24-Stunden Rooming-In ist gewährleistet, dass ein Kind so oft es will angelegt wird. Durch die Nähe der Mutter (Bedding-In ist vielleicht möglich) ist das Neugeborene ruhiger und spart dadurch Energie. Außerdem werden keine Stresshormone ausgeschüttet (Adrenalin). Gerade Adrenalin hemmt die Verbrennung von Fetten.
  4. Das Neugeborene sollte nicht abkühlen oder zu warm sein. Sowohl Frieren als auch Schwitzen kostet Energie und erniedrigt den Blutzuckerspiegel.
  5. Es sollte kontrolliert werden, ob der Säugling korrekt angelegt ist und korrekt saugt. Nur so bekommt das Kind auf Dauer ausreichend Muttermilch.
  6. Schnuller, Stillhütchen und künstliche Sauger bergen die Gefahr von Saugverwirrung. Das Kind kann nicht mehr richtig aus der Brust trinken, bekommt dadurch weniger Milch und die Milchbildung der Mutter wird weniger angeregt.
  7. Durch Schnuller können die Kinder außerdem „hingehalten“ werden, und werden somit weniger gestillt als möglich wäre.
  8. Routinemäßige Blutzuckerkontrollen sind nicht notwendig, belasten den Säugling und führen womöglich zu unnötigem Eingreifen.
  9. Zufüttern bringt erhebliche Nachteile:
    • Die Flüssigkeitsmengen geben ein „volles Gefühl“, wodurch das Kind weniger trinkt.
    • Die Milchbildung der Mutter wird dadurch weniger stimuliert.
    • Glucoselösung bewirkt eine Ausschüttung von Insulin. Durch Insulin wird die Verbrennung von Fetten aber eingestellt. So kann nach anfänglichem Anstieg der Blutzuckerspiegel, die Konzentration von Zucker im Blut des Kindes wieder fallen, sogar noch unter den Anfangswert. So entsteht vielleicht das, dem man vorbeugen wollte, nämlich eine Unterzuckerung. Auch in Deutschland sind diese Empfehlungen umgesetzt.

In den „Leitlinien zur Betreuung des gesunden Neugeborenen im Kreißsaal und während des Wochenbettes der Mutter“ heißt es: „Die lange Zeit propagierte, aber nie ausreichend belegte Zufütterung von 5% Glucoselösung, Maltodextrin oder zuckerfreiem Tee wird heute in der Regel als überflüssig und in Bezug auf Stillfähigkeit und die physiologischen Regulationsmechanismen des Wasser- und Glucosehaushaltes sowie die Höhe des Bilirubinspiegels in den ersten zwei bis drei Tagen als nachteilig angesehen. In den ersten Lebenstagen vor Stillbeginn ist die Fütterung einer Fertignahrung als Muttermilchersatz bei gesunden Neugeborenen zu vermeiden. Kommt es bis zum vierten Lebenstag zu keiner nennenswerten Milchsekretion oder erreicht der Gewichtsverlust mehr als 10 %, so ist die passagere Zufütterung von Tee oder einer Säuglingsnahrung mit reduziertem Allergengehalt zu empfehlen.

Medizinischer Beirat der
Arbeitsgemeinschaft Freier Stillgruppen e.V.:
Elien Rouw

 

Literatur:

  • Grundlagenseminar: Aus- und Fortbildungskurs zu Stillbegleitung. Brigitte Benkert, 1998.
  • Hypoglycaemia of the Newborn: A Review of the Literature. WHO/CD/97. 1,WHO/MSM/97.1
  • Stillen in den ersten Lebenstagen – Ist eine Ergänzung notwendig? Skadi Springer 1997.
  • Leitlinien zur Betreuung des gesunden Neugeborenen im Kreißsaal und während des Wochenbettes der Mutter. von Stockhausen HB, Albrecht K. Der Frauenarzt 38 227-229, 1997.
  • Stillempfehlungen der Nationalen Stillkommission. Tietze W.Z. Geburtshilfe und Neonatologie 201 152-153, 1997.
  • Patterns of metabolic adaptation for pre-term and term infants in the first neonatal week. Hawdon JM, Ward Platt MP, Aynsley-Green A. Archives of Disease in Childhood 67 357-365, 1992.
  • Neonatal Hypoglycaemia – blood glucose monitoring and baby feeding. Hawdon JM, Ward Platt MP, Aynsley-Green A. Midwifery 9: 3-6, 1993.
  • Prevention and management of neonatal hypoglycaemia. Hawdon JM, Ward Platt MP, Aynsley-Green A. Archives of Disease in Childhood 70 F60-F65, 1995.
  • Unsupplemented breastfeeding in the maternity ward. Positive long-term effects. Nylander G, Lindemann R, Helsing E, Bendvold E. Acta Obstet. Gynaecol. Scand. 70: 205-209, 1991.